Das Rad der Fortuna, das Orffs Komposition und ihre
 Aufführenden bewegt

Die Autorin berichtet mit bewegten Worten, wie es zu der Aufführung im Rudolph-Steiner-Haus kam. Die vielen mittellateinischen Wendungen vermitteln schon einen Teil der Anforderungen an den Chor. Aber alles mündet in den Schluss: „Die Stimmung ist ausgelassen. Fortuna lächeIt”. Die Luft im Konzertsaal des Rudolf-Steiner-Hauses am Mittelweg ist so stickig, dass man meint, sie schneiden zu können. Die Türen sind geschlossen, kein Licht dringt durch die schweren Vorhänge. Die Zuschauer versuchen sich mit Hilfe der Prograrnmhefte etwas Kühle zuzufächern. Für die Musiker auf der Bühne aber gibt es keine Linderung und die Scheinwerfer steigern die Hitze beinahe bis ins Unerträgliche. Der Auftakt gleicht dem Schicksalsschlag Fortunas, deren Geschichte er einleitet. Und dabei hatte es alles so schlicht angefangen. Schon seit einem guten halben Jahr probt der Sophie-Barat-Chor unter der Leitung von Veronika Pünder für die Aufführung der „Carmina Burana“ von Carl Orff.

Zunächst erklangen sie nur in den wöchentlichen Donnerstagsproben, bald auch samstags und schließlich ein ganzes Wochenende lang im Schloss Drei-Lützow. Die Schicksalsgöttin war dem Unterfangen gnädig geneigt. Das Probenwochenende erreichten fast alle Sänger pünktlich, Unfälle blieben, genau wie Alkoholvergiftungen, aus und die einzelnen Stücke entwickelten sich nach und nach entsprechend der Orff’schen Klangvorstellung. Fortuna, vor deren Launen ausdrücklich zu Beginn und zum Ende der „Carmina Burana“ gewarnt wird, war, ob ihrer Lobpreisung, wohl milde gestimmt. Jetzt allerdings zeigt sie ihr zweites Gesicht. Unerbittlich raubt sie den
 Chorsängern den Atem. „Quicquid enim florui felix et beatus, nunc a summo corrui gloria privatus“ singt der Chor: „Doch wie ich auf der Blüte stand, glücklich und gesegnet: jetzt stürze ich vom Gipfel ab, beraubt der 
Herrlichkeit“. 
Der Text der „Carmina Burana“ basiert auf einer mittelalterlichen Handschrift, die Carl Orff 1934 in einem Antiquariatskatalog fand.

Eingerahmt vom Motto der lenkenden Schicksalsgöttin, besteht der Liedzyklus aus drei Teilen: In „Primo Vere“ wird das Frühlingserwachen und die erste Liebe thematisiert; es folgt „In Taverna“ eine Sammlung von Trinkliedern, die nur von den Männern dargeboten werden. Schließlich triumphiert in „Cour d’Arnour“ die Liebe, gekrönt in der Verherrlichung der Venus. Doch das Glück ist nicht von Dauer. So düster wie die Gesänge begonnen haben, enden sie auch wieder. Fortunas Rad dreht sich weiter.

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Der Chor lässt sich das jedoch nicht anmerken. Munter bitten die Mädchen in einem Lied den Krämer um Farbe für ihre Wangen, um die jungen Männer zu verführen. Die Herren zieht es allerdings eher in die Kneipe, wo sie während des Saufgelages sogar den gebratenen Schwan singen hören: „Olim lacus colueram“ „- Einst schwamm ich auf den Seen umher…; „Miserl Modo niger et ustus fortiter!“ – Armer! Nun so schwarz und so arg verbrannt!“. Gemäß Orffs Wünschen werden die Elemente der einzelnen Teile auch außerrnusikalisch aufgegriffen.

Vier Schülerinnen und Schüler (Cosmea Dinse, Solveigh Patett, Tristan Hartung, Matthias Peikert) entwickelten Ideen, wie man die Gesänge farblich beleuchten kann. Die Beleuchtungstechnik der Bühne im Rudolf-Steiner-Haus ermöglicht einen – bisweilen dramatischen – Lichtwechsel, der die Stimmung der Gesänge
widerspiegelt. Kaltes Blau „ beleuchtet“ die Klagegesänge gegen Fortuna, zartes Grün untermalt die Frühlingslieder und die Frühlingsgefühle, die Farbe Lila unterstützt die Kneipenszene, die Liebeslieder werden orange eingefärbt. Die Wirkung auf die Zuhörer, die auch Zuschauer sind, bleibt nicht aus. 
Stärker als alle „hitzigen Umstände“ ist jedoch am Ende der Klangwillen der Musiker: die Schlagzeuger, die
Solisten, die Pianisten und der Chor brillieren gemeinsam. Als die letzten Takte verklungen sind, kann sich so 
manch einer kaum noch auf den Beinen halten. Die musikalische Leistung hat das jedoch nicht geschmälert. Das Publikum bedankt sich mit tosendem Applaus für die gelungene Darbietung. Blumen werden den Gesangssolisten (Sopran: ji-Syong Kwon; Tenor: Marc Haag; Bariton: Jae-Hjun Lee), den Schlagzeugern (Rüdiger Funk, Claudion von Hassel, Dirk Iwen und Frank Hiesler), den Pianisten (Mari Kitagawa und Werner
 Singer), der Querflötistin Elisabeth Hufnagel (Abiturientin der Sophie-Barat-Schule) sowie der Dirigentin
Veronika Pünder überreicht.

Dass die Blurnenmädchen, die Mitglieder des Chores sind, dabei nicht mehr ganz
frisch aussehen, stört keinen. Die Zuhörer verlangen eine Zugabe und stimmen in den Refrain des Liedes
„Tempus est jucundum“ mit ein: „Oh, oh, oh, totus floreo“ – Oh, wie ich blühe! Dann dürfen die tapferen
Musiker die Bühne verlassen. Die Zuhörer sind eingeladen im Foyer eine Ausstellung des Kunst-LKS (Leitung: Frau Kurth-Schell) zu besuchen, der sich von den Texten der Carmina Burana zu Photographien inspirieren ließ. Die Musiker finden sich nach und nach ein, um sich feiern zu lassen. Die Anstrengungen sind vergessen. Die Stimmung ist ausgelassen. Fortuna lächelt wieder.